Im Porträt: „Das Dingdener Haus voll Glorie“

DSC_0065Wenn er Augen und Ohren hätte, was mag dieser Kirchturm in seiner über 850-jährigen Geschichte schon alles gesehen und erlebt haben? Unzählige Osternächte, ebenso viele Weihnachten. Taufen, Trauungen, Beerdigungen. Sogar ein späterer Bischof war unter den Täuflingen. Aber genauso Kriegsdonner und Schlachtenlärm. Märkte und Dorffeste. Verliebte Paare beim Spaziergang. Spielende Kinder im Schatten des Kirchturms. Kneipenbesucher, die auf ihrem Heimweg Halt suchen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Der spätromanische Turm aus Eifel-Tuffstein lugt aus der Ferne gut sichtbar über den Dächern Dingdens hervor. Genau 43,32 Meter hoch, nur Borgers Schornstein ist länger. Das Haus voll Glorie, hier schauet es wirklich weit über alle Land. So ist es heute, so war es spätestens seit dem 12. Jahrhundert, als der Turm einer alten Holzkapelle nachfolgte.

Dabei diente das Gemäuer zunächst nicht nur als Kirchturm im heutigen Sinne. Mit Raum für vier Glocken und dem Wetterhahn an der Spitze. Die Kirche war Wehrturm und Zufluchtsort für die Bauern und Dorfbewohner. Zogen räuberische oder kriegerische Truppen heran, bot die Kirche Schutz und Sicherheit. Nicht nur im übertragenen Sinne wie heute, sondern ganz konkret. Schmale Fenster und Schießscharten erinnern bis heute an diese ursprüngliche Funktion. Blitzschnell abgeschossene Pfeile trieben die Angreifer in die Flucht.

Mit viel Phantasie sieht man die Ritterhorden des Mittelalters lebendig werden. Vor allem die Kommunionkinder wollen solche Stories hören, wenn sie mit Hermann-Josef Fischer in den Turm klettern. Dieser Dingdener kennt die Geschichte der Pfarrkirche St. Pankratius. Seiner Pfarrkirche, müsste man sagen.

Sein Leben ist seit Kindertagen mit der Kirche verbunden. Dem Gebäude genauso wie der Institution. Messdiener, Wallfahrer, Gemeindearbeit. So haben es viele Dorfbewohner erlebt.

Als Küster war Hermann-Josef Fischer neun Jahre lang am Ende seines Berufslebens tätig. Mit dem 67-Jährigen wird der Spaziergang durch die Kirche zur Entdeckungsreise durch die Jahrhunderte.

Bezugspunkt im Leben der Menschen

Die katholische Kirche gehört zu Dingden wie der Dom zu Köln. Nicht nur als Fluchtort im Mittelalter, sondern vor allem als Bezugspunkt im Leben der Menschen. Heute noch genauso wie für viele in den vergangenen Jahrhunderten.

Vor exakt 700 Jahren wurde die Kirchengemeinde das erste Mal in alten Urkunden erwähnt. Aber schon im Jahr 1000 soll es eine Holzkapelle gegeben haben. Damals wurde der Heilige Pankratius ihr Patron, ein heiliger Popstar des frühen Mittelalters. 985 wurden seine Gebeine von Rom nach Gent in Flandern überführt. Ein großes Spektakel. Heute würden wir Tournee dazu sagen.

Damals nahmen sich die Dingdener diesen Märtyrer der Urkirche zum Vorbild, der um das Jahr 304 herum in Rom enthauptet worden war. Über die Jahrhunderte hielt der Schutzpatron, der zu den Eisheiligen zählt, seine schützende Hand über das Dorf. Vielleicht hat er sich nur ein einziges Mal in den letzten Jahren weggeguckt, als die Düsseldorfer Landespolitiker im Jahre 1975 die einst selbstständige, westfälische Gemeinde Dingden der rheinischen Stadt Hamminkeln zuschlugen. Aber für weltliche Politik sind Heilige ja auch nicht zuständig.

In der Kirche sucht der Besucher den Heiligen Pankratius vergebens. Die abstrakt gestalteten Kirchenfenster von Trude Dinnendahl-Benning zeigen symbolische Motive. Weiter im Altarraum: Maria im Strahlenkranz, schmerzhafte Mutter Gottes, Tabernakel, der goldene Auferstandene über dem Altar, Taufbrunnen. Das sind die Blickfänge in der Kirche.

Fischer zuckt mit den Achseln, wenn er gefragt wird, ob Pankratius‘ Reliquien wenigstens im Altar aufgebahrt sind. „Aber die sind ganz sicher von einem Menschen, der gut gelebt hat“, heißt seine listige Antwort. Eine Statue des Heiligen Pankratius steht erst wenige hundert Meter an der Greft auf dem Weg Richtung Pfarrhaus. Aber im Gemeindeleben ist Pankratius alltäglich präsent: Nicht nur auf den Briefköpfen der Pfarrei, sondern auch bei den Gemeinschaften und Gremien in Dingden. Pankratius ist feste Größe.

Der dunkelste Tag ihrer Geschichte

So mächtig und gewaltig wie das Kirchengebäude. Von außen bilden Turm und Hauptteil eine Einheit. Innen sieht das anders aus. So ist der Turm eine separate Kapelle. Ins Kirchenschiff kann man nicht gelangen, sondern geht außen herum durch den Seiteneingang oder durchs Haupttor.

Das liegt auch daran, dass die Kirche am 25. Februar 1945 den dunkelsten Tag ihrer jahrhundertelangen Geschichte erleiden musste. Vier Jagdbomber der britischen und polnischen Luftwaffe stießen an diesem Sonntagmorgen um kurz vor neun durch den Himmel und entluden ihre tödliche Fracht über Dingden. Ein mutiger Luftschutzwart gab rechtzeitig Alarm. Alle Gottesdienstbesucher konnten sich in Sicherheit bringen. Ironie der Geschichte: Nicht in der Fluchtburg Kirchturm wie Jahrhunderte zuvor, sondern außerhalb im Luftschutzkeller. Für die Bomberpiloten bot die Kirche ein sicheres Ziel. Und die Aussicht auf möglichst viele zivile Opfer, um die Moral der deutschen Bevölkerung zu zermürben. Der Plan ging nicht auf, es gab weder Tote noch Verletzte zu beklagen. Gott sei Dank. Und Pankratius sei Dank.

Dafür lag die Pfarrkirche in Schutt und Asche, nur der Turm überstand die Attacke mit leichten Blessuren. Nach Kriegsende wurden Pläne gezeichnet und wieder verworfen. Eine schlichte Lösung sollte her: „Eine Hallenkirche ohne Säulen, die den Blick verstellen könnten, mit kleinen Anbetungskapellen sollte entstehen“, wie es in einer Festschrift zu 60 Jahre Wiederaufbau heißt. Der Dingdener Volksmund formuliert es profaner: „Wie eine Scheune.“ Passend zum dörflichen Charakter Dingdens und seiner Bauernschaften. In der Festschrift heißt es wohlformuliert: „Nüchtern und kühl präsentiert sich der Innenraum und lenkt den Blick unweigerlich auf den hell erleuchteten Altarraum.“

Architekt Walter Kremer aus Duisburg bekam seinerzeit vom Kirchenvorstand den Zuschlag für den Wiederaufbau. Die Dingdener Handwerker legten los, Schulkinder halfen beim Steine klopfen. Mit Ziegelsteinen aus Lankern wurde das Gebäude hochgezogen. Am 4. Oktober 1950 wurde wieder Kirchweih gefeiert. Dingden hatte seinen geistlichen Mittelpunkt zurück.

Über eine Frage wurde beim Bau viel diskutiert: Wo ist eigentlich vorne, wo ist hinten? Normalerweise weist der Altar nach Osten. In Dingden wurde er an der Westseite platziert. Das hatte vor allem praktische Gründe, denn der neue Haupteingang wurde von der Kirchturmseite auf die Dorfseite verlegt. Verkehrte Welt in Dingden. Der anstehende Umbau der Kirche sorgt für leichte Korrekturen: Der Altar wird wieder ein Stückchen zurück nach Osten gerückt. Aber dafür sind nicht die Ost-West-Beziehungen ausschlaggebend, sondern der Altarraum soll näher an die Gemeinschaft der Gläubigen heran. Und: Der Turm wird wieder in den Kirchenraum einbezogen. Mitten drin statt nur dabei.

Nach den vielen wechselvollen Veränderungen der vergangenen Jahrhunderte steht auch die bevorstehende Renovierung in der Kontinuität des Wandels. Schon nach 1950 wurde viel getan: Der damalige Hochaltar wurde abgebaut. Neue Farbe an die Wände gestrichen. Die Seifert-Orgel eingebaut. Die Liste der Veränderungen reicht bis zur Wiederentdeckung der Ölgemälde, die an der Seitenwand den Kreuzweg zeigen und bis in die 1980er Jahren auf dem Friedhof unterm Abdach standen.

So geht der Wandel immer weiter. Der Kirchturm bleibt Sichtmarke und Fluchtpunkt. Pankratius hält seine schützenden Hände über die Pfarrkirche. Jetzt bekommt das Gemeindeleben neue Strukturen durch die Zusammenführung zur neuen Pfarrgemeinde Maria Frieden.

Das alte Kloster, zwischen Loikum und Dingden gelegen, gibt es längst nicht mehr. Aber nicht nur die Marienvredener Straße im Dorfkern erinnert daran. Viele Steine des Klosters sind nach der Auflösung in Dingdener Häusern verbaut worden – ob im Saal Hoffmann oder im Café Crème. Sie mögen heute auch symbolhaft für die vielfältige Verankerung von Maria Frieden in Dingden stehen.

Artikel von Norbert Neß, erschienen im Pfarrbrief (Advent 2012)