Im Porträt: „Heilig Kreuz im Quartier Latin“

DSC_0008Der alte Meister Gerhard lebte vermutlich von 1210 bis 1271. Sein größtes Werk ist ein deutsches Wahrzeichen durch und durch: der Kölner Dom. Die Fertigstellung des gotischen Gemäuers erlebte der Baumeister aber nicht. Längst nicht. Erst Jahrhunderte nach seinem Tod wurden die beiden Türme fertiggestellt und der Dom vollendet. Vieles ist von Meister Gerhard nicht überliefert. Sicher ist, dass an Christi Himmelfahrt im Jahr 1248 der Grundstein für den Dom gesetzt wurde. Die Pläne für die Kathedrale stammen aus Gerhards Feder.

Meister Gerhard: Das war Ehrentitel und Berufsbezeichnung zugleich. Gerd Stevens hätte ihn ebenfalls verdient: „Meister Gerd“ hat nicht nur die Mehrhooger Kirche Heilig Kreuz, sondern ungezählte Häuser und Bauten seines Heimatdorfs Mehrhoog erbaut. Der rüstige 93-Jährige kennt unendlich viele Anekdoten, Histörchen, Erzählungen. In kleinen Büchern hat er sie aufgeschrieben. „Geschichte und Geschichten“ lautet ein treffender Untertitel dazu.
Geschichte und Geschichten kennt er auch zu „seiner“ Kirche Heilig Kreuz in Mehrhoog. Gerd Stevens hat sie geplant, erbaut – und ist Mitglied unserer Pfarrgemeinde. Sein Bauwerk ist der jüngste Kirchenbau in der Pfarrei Maria Frieden. Vor 50 Jahren, am 15. November 1964, wurde der erste Spatenstich gesetzt. Am 1. Oktober 1966 hat der Münsteraner Weihbischof Heinrich Baaken die Kirche geweiht.

Bevor Architekt Stevens – gemeinsam mit dem Kirchen-Architekten Erwin van Aaken – die erste Skizze zu Papier brachte, gingen der Kirchenplanung jahrelange Bemühungen voraus. Als Generationenkonflikt zwischen Mutter und Tochter beschreibt Stevens die wechselvolle Geschichte zwischen den Nachbardörfern Mehrhoog und Mehr: „Auch die Tochter Mehrhoog, die der Mutter inzwischen über den Kopf gewachsen war, hat der agile Pfarrer nicht vergessen“, heißt es beispielsweise über Pastor Karl Esser, der 1934 den Kirchbauverein wiederbelebt hat.

Fähnchen für Fronleichnam

Zuvor wurde bereits zur Jahrhundertwende erstmals für eine eigene Mehrhooger Kirche gesammelt. Dieser erste Kirchbauverein hatte jedoch keinen Erfolg: Fehlendes Engagement einerseits und die Währungsreform andererseits brachten das angesparte Kapital wieder auf Null. „Großzügig wurden vom Restgeld, das für andere Zwecke in der Pfarre Mehr verwendet wurde, einige Fähnchen und Glöckchen angeschafft, die Mehrhooger Volksschüler bei der Fronleichnamsprozession in Mehr tragen durften“, heißt es lakonisch in Stevens‘ Notizen zum vorläufigen Ende des Vereins.

Auch der zweite Anlauf kam nicht ans Ziel. Die Nazi-Machthaber versagten dem Kirchenbau die Erlaubnis. Aller guten Dinge sind drei: 1957 nahm der Kirchbauverein zum drittel Mal seine Arbeit wieder auf. Architekt Stevens beteiligte sich mit einem Vorentwurf, verschiedene Grundstücke wurden ins Auge gefasst. Mit 100.000 D-Mark beteiligten sich die Gläubigen an den Baukosten von rund 600.000 D-Mark.

Dass die Kirche am Ortsrand in Richtung Töven errichtet wurde, ist einer letzten List der Mehrer Mutter zu verdanken: Nachdem in den 1960er Jahren die Bauleitplanung auf kommunale Hände überging, schrieben Haffen und Mehr das außenliegende Gelände in die Flächennutzungspläne. „Um einen Kirchbau nicht erneut in Frage zu stellen, musste man sich den Planungsvorgaben beugen“, resümierte Stevens. Und agierte drei Tage vor der Kirchweih nicht weniger listig: Bei einer kurzfristigen Audienz beim Münsteraner Generalvikar Böggering setzte er sich dafür ein, die Grenzen der neuen Pfarrei noch nicht zu ziehen, sondern die kommunale Gemeindereform abzuwarten. So sind weltliche und kirchliche Gemeinde bis heute identisch.

Irrungen und Wirrungen, Grenzkonflikte sind längst Vergangenheit. Seit Advent 2012 ist Heilig Kreuz eine von fünf Kirchen in der Pfarrei Maria Frieden. Wie der Sakralbau in Ringenberg beherrscht moderne Architektur und Kunst das Gebäude. Wenige Meter neben dem Kirchenschiff wurde der Turm errichtet. Beton und rote Klinker dominieren die äußere Ansicht. Architekt Stevens ist es gelungen, die Philosophie seiner Kirche in einen Satz zu fassen: „Hell verputzte Wände, die Betonfarbe der Konstruktionsteile, der Boden in Jura-Marmor sind neben der mit Holz verschalten, im Naturton belassenen Decke, die durch die hochsitzenden Fenster einen fast schwebenden Eindruck macht, die aufeinander abgestimmten, raumbildenden Elemente.“ Kurzum: „Es sollte ein Raum entstehen, der geeignet ist, Gemeinschaft zu bilden und zu festigen.“

„Die Kirche kann sich sehen lassen“

Küsterin Maria Schulte-Drevenack bestätigt das: „Von jedem Platz im leicht ansteigenden Raum lässt sich der Altar gut sehen. Und von oben kann jeder Gottesdienstbesucher gut gesehen werden.“ Keine Säulen, die den Blick versperren.

Der erste Eindruck: ganz schön dunkel. Nach und nach gewöhnen sich die Augen an das Dämmerlicht, das durch Lichtbänder in den Innenraum fällt. Die Stimmung ist gewollt, sagt der Erbauer. Bei den romanischen Kirchen sei die Dunkelheit Programm gewesen, um die richtige, andächtige Stimmung zu erzeugen. In Heilig Kreuz gelingt das auch.

Der Blick des Betrachters fällt auf wenige, markante Elemente: Altar, Tabernakel, Ambo, Taufstein und Kreuz hat der Künstler Hermann Kunkler aus Raesfeld gefertigt. Das wuchtige Kreuz fällt beim Betreten der Kirche sofort ins Auge. Rot funkelnde Mosaiksteine erinnern an das Blut und Leiden Christi, das Kreuz selbst wirkt verschlissen und zerschunden. Morgens trägt die Natur ihr übrigens dazu bei: „Von Osten strahlt die Sonne morgens durch das Fensterband genau auf das Kreuz“, schwärmt Maria Schulte-Drevenack von der besonderen Lichtstimmung.

Rechts und links flankieren Antonius von Padua und Maria den Altarraum. Der Kreuzweg aus Mosaiksteinen wurde nachträglich angebracht, ebenso die neue Orgel. „Die Kirche kann sich sehen lassen“, resümiert „Meister Gerd“ am Ende seiner Kirchenführung. Von der vorletzten Bank aus erzählt er seine persönliche Kirchengeschichte. Die allerletzte Bank ist nicht mehr da, sie musste dem Orgelpodest weichen. Dort war sein Lieblingsplatz, hier feierte er sonntags mit Weggefährten den Gottesdienst mit.

Gerd Stevens ist stolz auf seine Bauwerke. „Quartier Latin.“ Lateinisches Viertel. So nennt er das Arrangement rund um Kirche, Pfarrheim, Kindergarten und Schule. Er, der Junge vom Land, hat nicht nur Episoden aus der Vergangenheit aufgeschrieben, sondern Geschichte geschrieben. Und gebaut.

Artikel von Norbert Neß (erschienen im Pfarrbrief, Sommer 2014)