Erklärendes und Erhellendes zum Hungertuch 2021/22

MISEREOR hat mit den Hungertüchern eine mittelalterliche Tradition wiederbelebt. Vor Ostern wurden früher die Altäre und Triumphkreuze mit Stoffbahnen verhüllt – es ging um ein „Fasten der Augen“. Die Fastenzeit war damals im buchstäblichen Sinn eine Zeit der Abstinenz, um sich auf das Wesentliche des Lebens zu besinnen. Vor allem die kleinen Leute empfanden sie als Hungerzeit. Daher rührt der erklärungsbedürftige Name „Hungertuch“. Doch schon bald begann man, biblische Szenen auf die Tücher zu malen und sie als Medium der Katechese zu nutzen. Denn viele Gläubige waren Analphabeten und hatten nur über Bilder einen Zugang zur Heiligen Schrift. Auch die MISEREOR-Hungertücher, die seit 1976 von Künstlerinnen und Künstlern aus Afrika, Asien, Ozeanien, Lateinamerika und Europa gestaltet werden, wollen Verkündigung und Katechese unterstützen. Zusätzlich weiten sie den Blick für die Glaubens- und Leidenserfahrungen der Menschen in anderen Kulturen und Weltregionen.

Die chilenische Künstlerin Lilian Moreno Sánchez hat das neue Hungertuch geschaffen. Der Titel „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ knüpft an den 31. Psalm an.

Dieser Psalmvers (Ps 31,9) 1 steht als Titel über dem Hungertuch von Lilian Moreno Sánchez. Er beschreibt in wunderbarer Weise, was im Glauben alles möglich ist. Die Metapher des Fußes lässt uns an Aufbruch, Bewegung und Wandel denken, das Bild des weiten Raumes lässt uns aufatmen, ermutigt zu Visionen. Und der Vers sagt noch mehr: Gott öffnet uns nicht nur einen weiten Horizont, er gibt uns auch festen Stand. Wenn menschlich gesehen alles hoffnungslos erscheint, zeigt Gott uns Auswege.

Psalm 31
Gott, ich fühle mich bei dir geborgen.
Lass mich nicht allein!
Neige dein Ohr zu mir.
Höre mich!
Wenn um mich das Meer tobt, bist du mein Fels.
Wenn ich vom Sturm überrascht werde, bist du meine Burg.
Führe und leite mich auf meinen Wegen,
wenn es dunkel um mich ist!
Ich fühle mich wie in ein Netz verstrickt,
das plötzlich über mich geworfen wurde.
Hilf mir heraus, denn ich habe Angst!
Wenn Einsamkeit mich überfällt und ich mich gefangen fühle,
dann bist du doch da.
In deine Hände lege ich mich.
Ich vertraue darauf: Du lässt mich nicht fallen.
Du holst mich heraus aus meiner Machtlosigkeit.
Du stelltest meine Füße auf weiten Raum.
Du bist mein Gott!

Das Bild
Als Grundlage ihres Bildes hat die chilenische Künstlerin Lilian Moreno Sánchez das Röntgenbild eines vielfach gebrochenen Fußes verwendet. Der Fuß gehört zu einem Menschen, der bei Demonstrationen im Oktober 2019 in Santiago de Chile schwer verwundet wurde. Die Proteste, die auch 2020 weitergehen, sind gegen die soziale Ungerechtigkeit im Land gerichtet. Die Demonstrierenden benannten die Plaza Italia, auf der sie sich versammelten, 2019 in „Platz der Würde“ um. Über tausend Menschen wurden bei den damaligen Unruhen verletzt, rund 7000 wurden verhaftet.

Die Künstlerin hat ihr Bild als Triptychon angelegt. Als Untergrund verwendete sie Bettlaken aus einem europäischen Krankenhaus und einem ehemaligen bayerischen Frauenkloster, um die körperlichen und die seelisch-spirituellen Aspekte von Krankheit und Heilung anzusprechen. Auf dem Platz der Würde in Santiago de Chile hat sie Erde und Staub eingesammelt und in den Stoff gerieben, der nicht glatt und makellos, sondern mit eingebügelten Falten und Verwerfungen auf die Keilrahmen gespannt wurde. Man erkennt feine eingenähte Goldfäden; sie sind wie Wundnähte, die nach dem Abheilen einer Verletzung sichtbar bleiben. Die zum Schluss aufgebrachten goldenen Blumen greifen das Muster der Kloster-Bettwäsche, eingewebte Blüten, auf. Während das Röntgenbild deutlich die Brüche der Knochen und Gelenke zeigt, die Verletztheit, den Schmerz, symbolisieren die Blumen Schönheit, Zartheit und Kraft – das unbesiegbare und neu erblühende Leben.

Die schwarzen Linien des Röntgenbildes, die verwendeten Materialien Zeichenkohle, Staub und Erde sowie die karge Bildsprache verweisen auf die Passion Christi und die Passionen der Menschen; dagegen stehen Gold und Blumen für das kostbare Leben, für Hoffnung und Liebe. Wir sind gerufen, nicht im Leid zu verharren, sondern „Wege ins Weite“ zu suchen. Die Linien des Röntgenbildes vermitteln auch einen Eindruck von Leichtigkeit, sie scheinen zu tanzen: Leben ist ein Prozess, der immer weitergeht – auch mit verwundeten und gehemmten Füßen vertrauen wir auf die Kraft des Wandels.

Das Bild entstand in der Zeit der beginnenden Corona-Pandemie im Augsburger Atelier der Künstlerin. Auch ihr Heimatland Chile wurde schwer von der Corona-Krise getroffen. Existenzängste und die drohende Überforderung des Gesundheitssystems verschärften die bestehenden politischen und sozialen Probleme. Lilian Moreno Sánchez ist in der Zeit der Diktatur groß geworden, die in Chile nicht wirklich aufgearbeitet wurde. Doch sie glaubt an Veränderung, die möglich wird, wenn man sich den Leiden und Gewalterfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart stellt.

Ergänzendes Video zum Hungertuch und der Künstlerin:
https://www.misereor.de/mitmachen/fastenaktion/hungertuch

Hinweis des Liturgieausschusses:
Aufgrund der Corona-Pandemie und dem verspäteten Eintreffen der Materialien werden Angebote zum Hungertuch erst im nächsten Jahr erfolgen.