Wochenimpuls Maria 2.0 – Die Kirche im Wandel

Es gibt nach katholischem Verständnis keine ideale Phase der Geschichte mit einer mustergültigen Verwirklichung von Kirche, auch nicht in der Jerusalemer Urgemeinde oder der Kirche der ersten Jahrhunderte, der dann mehr als tausend Jahre Niedergang gefolgt wären. Vielmehr kommen alle Ausprägungen der Kirche, ihrer Institutionen, Ämter und Lehren, die sich im Lauf von zweitausend Jahren Kirchengeschichte entwickelt haben, als Reservoir von Ideen für eine heutige Reform der Kirche in Betracht. (…)

Die erste Voraussetzung ist die Anerkennung der historischen Tatsache,  dass die Kirche in ihrer Geschichte nie ein monolithischer Block war. (…) Auf wichtige Fragen wurden ganz unterschiedliche Antworten gegeben, ohne dass dabei zwangsläufig die Einheit der Kirche infrage gestellt worden wäre, wie schon die unterschiedlichen Kirchenbilder im Neuen Testament belegen.

Wenn die Geschichtlichkeit der Kirche wirklich ernst genommen wird, muss auch – und das ist die zweite Voraussetzung – die Tatsache akzeptiert werden, dass sie sich entwickelt. Die Kirche in ihrer äußeren Gestalt ist und war historisch betrachtet einem ständigen Wandel unterworfen. Ihre Ämter und Institutionen haben sich im Lauf der Zeit entwickelt und sind nicht von Jesus Christus so gestiftet worden, wie sie heute sind. Manche kirchlichen Einrichtungen sind nach einer Blütezeit vergangen, andere erst spät in der Geschichte der Kirche entstanden.(…)

Die dritte Voraussetzung ist die Abkehr von der Vorstellung einer absolut einheitlichen, durch die Jahrhunderte hindurch stets kontinuierlichen und widerspruchsfreien Lehrentwicklung in der katholischen Kirche. (…)

In der Enzyklika „Mirari vos“ verdammte Papst Gregor XVI. im August 1832 die Gewissensfreiheit als „geradezu pesthaften Irrtum“. Pius IX. setzte diese Linie 1864 im „Syllabus errorum“, einer Liste mit achtzig Zeitirrtümern, konsequent fort. Er verdammte Gewissens-, Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit als „Wahnwitz“. (…) Wie anders das Zweite Vatikanische Konzil: Die Kirchenkonstitution „Gaudium et spes“ bezeichnet es als vornehme Aufgabe der Kirche, „die personale Würde und die Freiheit des Menschen“ zu schützen. Das Evangelium, das der Kirche anvertraut sei, proklamiere „die Freiheit der Kinder Gottes“ und respektiere „sorgfältig die Würde des Gewissens und seiner freien Entscheidung“.

Zitiert aus: Hubert Wolf; Krypta, Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte

Hubert Wolf ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Münster