Gedanken zur jetzigen Lage in der Welt II

Das Osterbrot

Am Karsamstag zog jedes Jahr von der Küche aus ein Duft durchs Haus, der unbeschreiblich war. Am Ostersonntag schlug Großmutter dann mit dem Messer ein Kreuz über den gebackenen Laib Brot, schnitt ihn an, bestrich die Scheiben mit Honig und reichte sie uns. Jetzt war Ostern.

„Sag doch, warum bäckst du nur einmal im Jahr Brot und das gerade zu Ostern?“ Auf diese Frage hin richtete Großmutter ihren Blick in die Ferne und begann zu erzählen:
„Es war nach dem Ersten Weltkrieg. Eine Handvoll bewaffneter Männer klopfte an die Haustür. Großvater wurde wegen vermuteten Widerstandes verhaftet, und wir mussten Ostoberschlesien sofort verlassen. Auf der Flucht rasteten wir eines Abends in einem kleinen polnischen Dorf. Für die Nacht wurde uns ein Backhaus zugewiesen. Wir waren hungrig, aber hatten nichts zu essen. Die Kinder weinten. Da stellte eine junge Frau eine Schüssel mit Mehl, ein Schälchen Sauerteig, einen Krug Milch und ein Tütchen voll Salz vor die Tür. Doch ich war hilflos, ich hatte noch nie Brot gebacken. Da kamen Frauen und halfen mir: Sie führten mir die Hände, und mit der Sprache von Gebärden zeigten sie mir, wie es ging. Als das Brot warm duftend auf dem Brett lag, war ich sehr glücklich.

Die Frauen sagten mir in schwerverständlichem Deutsch, dass ich das Brot erst morgen anschneiden solle, den dann sei Ostern. Und sie stellten mir ein Töpfchen Honig dazu.

Versteht ihr jetzt, warum ich es Jahr für Jahr wiederhole und dabei der Frauen gedenke, die Liebe gaben, als die Welt so voller Hass war? Damals bin ich ein wenig aus meiner Not und Verzweiflung >auferstanden<!“

Frei nach Dieter Kaergel aus frau&mutter 4/95