„Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut“ (Lk 1,48) – dieser aus dem Gesamtkunstwerk des „Magnificat“ herausgerissene Satz hat mich durch meine Kindheit in einer fundamentalistisch-marianischen Gruppierung begleitet. Diese „niedere“, gefügige, dienende und keusche Maria war das weibliche Idealbild, nach dem wir Mädchen geformt werden sollten. Dem gegenübergestellt wurde das negative Bild der „normalen“, sündigen und verführenden Frau.
Dass eine solche Aufspaltung der Frauenbilder nicht nur frauenfeindlich ist, sondern auch einen perfekten Nährboden für (Macht-)Missbrauch bietet und zu Täter-Opfer-Umkehr einlädt, habe ich am eigenen Leib und an der eigenen Seele erfahren müssen. Kein Wunder also, dass ich als Jugendliche die Flucht aus der Kirche ergreifen und alles Marianische und Katholische als belastet, ja als für mich regelrecht kontaminiert hinter mir lassen musste.
Erst Jahre später, als ich meinen Weg zurück in die Kirche gefunden und meine Begeisterung für die Theologie entdeckt hatte, habe ich mich im Zuge einer Prüfung genauer mit dem „Magnificat“ befasst…
Ich begegnete einer Maria, die – durch Gottes Gnade aus ihrer niedrigen Stellung erhoben und vom Heiligen Geist erfüllt – unerschrocken, selbstbewusst, leidenschaftlich und geradezu revolutionär auftritt…Und ich entdeckte eine Maria, die durch ihre selbstbestimmte Zusage, durch ihr bewusstes Ja zu Gottes Plänen das Heilsgeschehen überhaupt erst möglich macht…
Diese Maria wurde für mich das, was man mir früher immer aufzwingen wollte: ein ermutigendes Vorbild. Von ihrem begeisterten Loblied beflügelt kann man mutig gegen ohnmächtig machende und erniedrigende Strukturen und andere herrschende Missstände (auch und gerade in der Kirche) aufstehen. Von ihrem weiblichen Empowerment-Hymnus bestärkt, lässt sich selbstbewusst gegen Diskriminierung, gläserne Decken und patriarchalische Betonwände ankämpfen.
Johanna Beck in: CHRIST IN DER GEGENWART Nr.33/2021
Johanna Beck, Literaturwissenschaftlerin und Theologin, Sprecherin des von der Deutschen Bischofskonferenz eingerichteten Betroffenenbeirats